Samstag, 8. Dezember 2012

Strassennamen aus Franken in Berlin

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Ein Stückchen Heimat findet der Franke in der Ferne oft gar nicht so leicht. Es sei denn, er spaziert durch Berlin. Genauer gesagt durch den Bezirk Pankow im Nordosten der Hauptstadt. Dort ist Franken mit einem eigenen Viertel vertreten. Gleich neben der Dolomitenstraße, der Borkumstraße und der Westerlandstraße beginnt vertrautes Terrain. Einen Dettelbacher Weg gibt es hier, eine Gemündener Straße und einen Haßfurter Weg. Sogar kleinere Orte wie Retzbach, Zellingen und Zeil tauchen auf. Wie ein Dreieck, an dem ein viereckiger Klotz hängt, sieht das Viertel von oben aus. Kissingenviertel heißt es. Die Hauptstraße ist die Kissingenstraße, es gibt einen Sportplatz Kissingenstraße und einen Kissingenplatz. Dass die übrigen Orte auf den Straßenschildern in Wirklichkeit nicht eben in der Bad Kissinger Ecke liegen, ist hier Nebensache. Die Berliner scheinen jedenfalls gern in Klein-Franken zu wohnen.
Ein Wintermorgen im Kissingenviertel: Kalter Nebeldunst hängt über den Häusern. Von außen betrachtet unscheinbare Reihenhäuser. Pastellig-beige bis ockerfarben, meist vier Stockwerke hoch, die Fenster bis auf vereinzelte Ausnahmen kreuzförmig unterteilt. Aber richtige Reihenhäuser sind es nicht. Die Gebäude bilden nach innen fußballfeldgroße Vierseitenhöfe, es gibt Bäume, Wiesen und hier und da einen Spielplatz. Ein Hof ist eine Einheit, eine Gemeinschaft, wenn man so will.
„Jung und Alt, das harmoniert hier.“ Olaf Tietz, Hauswart im Kissingenviertel in Berlin
In einem der Höfe blickt sich ein Herr im Blaumann zufrieden um. Graues Haar, Brille, ordentlich gestutzter Oberlippenbart. Olaf Titze ist 58 und als Hauswart zuständig für einige Wohneinheiten im Kissingenviertel. Seit 13 Jahren wohnt er hier. Er weiß, wer wann in welche Wohnung gezogen ist. Titze wundert es nicht, dass viele Familien über Generationen hinweg dem Kissingenviertel treu bleiben. „Gemütlich und heimelig ist es hier“, sagt er. Und so ruhig. So ganz anders als im Zentrum, das nur ein paar Stationen mit der U-Bahn entfernt liegt.
Draußen auf der Straße ist es still. Nur die Schlangen parkender Autos deuten darauf hin, dass ihre Besitzer hier irgendwo sein müssen. Ein weißhaariger Mann mit Baskenmütze tappt auf einem Gehweg entlang, die Hände tief in die Parka-Taschen vergraben. Eine Frau mit Wollmütze schiebt ihren Rollator über die Straße. Oft sind es die älteren Leute, die heute im Kissingenviertel leben, sagt Titze. Aber auch die Jungen fehlen laut Titze nicht. „Jung und Alt, das harmoniert hier“, sagt er. Schulen gebe es in der Umgebung, Geschäfte, ein paar Kneipen, Vereine und natürlich den Sportplatz. „Das bringt viele Menschen zusammen.“
Das Kissingenviertel ist jetzt etwa 100 Jahre alt. Die Kissingenstraße und den Kissingenplatz gibt es schon seit 1906. Die restlichen Straßen wurden 1930 angelegt. Warum die Straßen in dieser Zeit ausgerechnet fränkische Ortsnamen bekamen, weiß niemand so genau. Eine offizielle Partnerschaft zwischen Bad Kissingen und Berlin hat es jedenfalls nicht gegeben. Das bestätigt Thomas Hack, Pressesprecher der Stadt Bad Kissingen. Wohl hätten aber private Freundschaften bestanden. Ganz zu schweigen von den vielen Kurgästen, die aus Berlin nach Bad Kissingen fuhren. Sogar eine direkte Zugverbindung habe es zwischen den Städten mal gegeben. Auch Markus Mauritz, Pressesprecher des Bezirks Unterfranken, weiß von keiner Partnerschaft. Dennoch steht auf dem Berliner Kissingenplatz seit 2000 ein Denkstein, auf dem sowohl die Stadt Bad Kissingen als auch der Bezirk Unterfranken vermerkt sind. „Verbunden mit Berlin“, ist darauf zu lesen. Dazu schlängelt sich ein blau-weißes Band um die Namen und Wappen von Stadt und Landkreis Bad Kissingen sowie dem Bezirk Unterfranken.
Die Berliner scheinen mit ihrem neuen Viertel jedenfalls zufrieden zu sein. In der Zeit der Weimarer Republik war das Kissingenviertel mit seinen 3600 Wohnungen eine der größten Siedlungen Berlins. Später, im Jahr 1936, hieß es in einer Stadtteilchronik, der Kissingenplatz sei „einer der schönsten Schmuckplätze Pankows, der besonders in den Monaten der Baum- und Strauchblüte große Reize hat“. Die Kissingenstraße hätte eine „schöne, breite Promenade“ erhalten. Und in der Karlstadter Straße hob man die „ausnahmslos zeitgemäßen Wohnhausbauten“ hervor.
Dennoch hat das Kissingenviertel nicht nur goldene Zeiten erlebt: Die Nationalsozialisten hielten auf dem riesigen Sportplatz Veranstaltungen ab. Das Gefängnis auf der Rückseite der Kissingenstraße, das 1928 wegen fehlender Häftlinge geschlossen worden war, erweckten sie wieder zum Leben. Ab sofort mussten dort all diejenigen sitzen, die politisch anders dachten. Zu Zeiten des DDR-Regimes wurde es zum Stasi-Knast. Heute ist das Gefängnis eine Justizvollzugsanstalt für Frauen.
Dass sich das Kissingenviertel noch heute verändert, kriegt Olaf Titze durch seine Arbeit mit. Die Bevölkerung wird sich verjüngen. Die noch günstigen Mieten locken Studenten an, die geplanten Wohngebäude auf den Freiflächen ziehen eher junge Berufstätige an. Momentan wohnt im Kissingenviertel übrigens kein Franke – zumindest keiner, den Titze kennt. Aber wer weiß, vielleicht kommt das ja noch.

Quelle: Mainpost

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